Pazi Snajper!

Eine Kurzgeschichte von
Anti Fischer
4. August 2019

3. März 05:26 Uhr Guesthouse Muslibegovic

Keiner von uns ist am Schlafen, als kurz vor Morgengrauen die Tür zu unserem Innenhof aufgebrochen wird. Ich springe aus dem Bett, nehme mein Jagdgewehr und trete aus meinem Zimmer. Midhat steht in Pyjama Hosen mit seiner geladenen AK im Flur. Er hebt die Hand um mir zu deuten, ich soll warten. Ich lade meine Waffe um sicher zu gehen, dass ich die volle Anzahl Schüsse zur Verfügung habe. Midhat senkt die Hand und hält seine Waffe schiessbereit. Die Haustür wird aufgebrochen und eingetreten. Sie sind im Haus und wir haben nur zwei Sekunden um akustisch zu ermitteln, wieviele Männer es sind. Zwei erscheinen am Fussende der Treppe. Ich ziele auf den Kopf des Einen. Ich habe noch nie eine Waffe abgefeuert. Der Mann ruft Midhat einen Satz zu, den ich nicht verstehe. Midhat lässt seine Waffen sinken. Wir verstecken nichts, sagt er auf Bosnisch. Das kann ich verstehen. Er macht eine einladende Handgeste. Ich lasse meine Waffe sinken, aber mir ist schlecht. Vier Soldaten kommen die Treppe hoch. Sie wollen unsere Papiere sehen. 

Dreh ihnen nicht den Rücken zu, denke ich noch, als Midhat sich umdreht um seinen Pass im Schlafzimmer zu holen. Drei der vier Soldaten wenden sich mir zu und noch bevor ich mich umdrehen kann, reisst mir einer die Waffe aus der Hand und zwei andere packen meine Arme. Midhat kehrt zurück und fragt auf Bosnisch was zur Hölle sie da machen. „Sie hat gegen das Gesetz verstossen“, sagt der eine laut. „Sie wurde gesehen, wie sie auf die andere Seite gegangen ist.“ Midhat lässt seinen Pass sinken. Mein Kopf bewegt sich zu schnell und mein Magen dreht sich um. Soll ich alles abstreiten? Soll ich so tun als hätte ich nicht verstanden? Soll ich ihnen sagen „Fuck you and your fucking war!“ und ihnen ins Gesicht spucken? 

Ich habe gar keine Zeit, eine Entscheidung zu treffen, der Soldat vor mir schlägt mir so schnell und hart ins Gesicht, dass ich gar nicht weiss, wie mir geschieht. Ich spüre nur einen das ganze Gesicht lähmenden Schmerz und sehe wie Midhat unter lautem Protest einen Schritt auf uns zu macht, nur um von einem anderen Soldaten mit der Waffe zurückgedrängt zu werden. „Schlampe!“, sagt der Soldat der mich geschlagen hat. „Nehmt sie mit.“ Die Männer ziehen und schleppen mich halb die Treppe runter. „Das könnt ihr nicht!“, ruft Midhat auf Bosnisch. „Today is judgement day!“, ruft der Soldat hinter mir laut und lacht. Ich blicke zurück und das Bild von Midhat, wie er in Pyjamahosen mit seinem Pass in der Hand am Kopfende der Treppe steht, brennt sich für immer in meinen Kopf ein.

Sie schleppen mich die enge Ramića hoch und dann gleich wieder die Treppen hinunter in die Altstadt, hin zur Brücke. Ich fange an zu weinen. Mir ist schwindlig, ich habe Angst. Auf der anderen Seite der Brücke werde ich durch die menschenleere Gasse gezogen, geschleppt, getragen. Einmal tritt mich der Soldat hinter mir so hart in den Po, dass ich kurz das Gefühl im linken Bein verliere. Ich will aufschreien, aber ich kriege keine Luft. Plötzlich ist Midhat wieder da. Ich sehe ihn hinter mir aus den Augenwinkeln durch den Tränenschleier. Er trägt eine Jacke mit Patronengürtel und redet auf Bosnisch auf die Soldaten ein. Ich höre durch mein eigenes Atmen und Schluchzen nur Bruchstücke. „Nicht machen“, „mit welcher Autorität“ und „wo hingebracht“, kann ich verstehen. Er nimmt meine rechte Hand. Die Soldaten antworten ihm laut, aber ich kann nichts hören oder verstehen. Ich spüre nur seine Hand in meiner und halte sie fest und spüre Liebe. 

Ich weine stark und meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Er wird stiller, redet weniger und leiser. Die Soldaten legen einen Zahn zu. Bitte hör nicht auf, meine Hand zu halten, denke ich. „Lass sie los!“ ruft einer der Soldaten wirsch auf Bosnisch. „Ich halte doch nur ihre Hand! Lasst mich die Hand meiner Tochter halten!“, antwortet Midhat in derselben Sprache. Sie ziehen mich nach rechts um die Ecke weg, ich ahne, wohin es geht. „Verpiss dich!“, sagt der Sloldat hinter mir zu Midhat und versucht ihn wegzustossen. Er lässt meine Hand nicht los sondern legt seinen Arm um mich, küsst meinen Kopf und flüstert in mein Ohr „Don’t go further than the parking lot„. Ich raffe es im ersten Moment gar nicht, weil mich seine Berührungen derart beruhigen. Deswegen ist der Moment in dem er sich löst und der hintere Soldat ihn wegschiebt, als würde ich aus einem bösen Traum gerissen. Dieses schreckliche Gefühl, das nach einem schlimmen Albtraum bleibt, der Schock klebt an mir wie Teer und meine Beine lassen endgültig nach und die zwei Soldaten müssen mich mitschleifen und ich weine.

 

3. März 05:51 Uhr Mariott Hotel Radobolija

Wir erreichen den grossen Platz vor dem gigantischen Neubau der vor dem Krieg ein brandneues Mariott Hotel war und jetzt als Ghetto dient für die anderen. Das ganze Hotel ist von einer Steinmauer umgeben und ich kann an den Fenstern Gesichter erkennen. Frauen und Mädchen und vereinzelt ein paar Jungs und junge Männer. Vor der Mauer aufgebaut ist ein Podest in der Mauer dahinter Einschusslöcher auf Kopfhöhe. Mir wird schlecht und hätte ich die letzten Tage mehr gegessen als ein Stück Lepina und Tee, hätte ich mich auf der Stelle übergeben. Stattdessen wird mir schwarz vor den Augen und ich höre den Soldaten hinter mir den anderen drei befehlen „Bringt sie da hoch!“ Meine Beine geben weg und meine Arme werden zu Gummi. Ich flutsche den Männern, die mich festhalten durch die Arme und knie plötzlich am Boden, mit beiden Händen stütze ich mich in den Steinboden, fasse ihn an. Mein Hirn schreit, ich soll aufstehen, die Soldaten schreien, ich soll aufstehen, aber mein Körper kann nicht. 

In dem Moment realisiere ich, dass wir uns auf dem Parkplatz befinden. Vor uns stehen zwei Reihen Autos. Leere, von Menschen verlassene Autos, die irgendwann Gewehrschüssen ausgesetzt waren, aber es sind keine organischen Spuren mehr sichtbar. Auch an der Wand befindet sich kein Blut. Aber ich befinde mich auf dem Parkplatz. Nicht weiter als der Parkplatz, hatte Midhat gesagt. Ich will lachen, aber auch weinen. Ich verlasse den Parkplatz höchstens nur auf einen Weg und der führt über Jesus oder den Jordan oder was auch immer. Ich werde wieder hochgezogen, diesmal von allen vier Männern und jeder hat einen packenden Griff irgendwo. Ich sehe wie zwei andere Frauen auf das Podest gezogen und geschleppt werden, aber ich registriere es nicht wirklich. Ich bin auf dem Parkplatz, sagt sich mein Kopf immer wieder. Ich bin auf dem Parkplatz, nicht weiter als zum Parkplatz! Die Autos der vorderen Parkreihe stehen so nah beieinander, dass keine fünf Leute durchpassen. Es passen nicht Mal zwei. Der Soldat der vorhin ständig hinter mir und der lauteste war, muss links und ein anderer Soldat rechts an den beiden Autos vorbei, zwischen denen ich nun mit einem Mann vor mir von hinten im Rücken geschoben werde. 

Wir befinden uns immer noch zwischen den beiden Autos als der Soldat vor mir plötzlich seine Hand auf meine brust legt und ich halte verdutzt an. Die Hand aus meinem Rücken ist verschwunden, der Soldat hinter mir ist in die Hocke gegangen. „Get down!„, schreit der Soldat vor mir und eröffnet das Feuer. Ich knie auf dem Boden und blicke nach hinten und sehe nur, wie der Soldat hinter mir plötzlich nach hinten und dann nach vorne nickt. Aus seiner Stirn läuft Blut. Durch die Windschutzscheibe des Autos rechts von mir sehe ich Midhat den Vorplatz stürmen. Neben ihm seine Frau Safija, sie trägt zwei Patronengürtel über ihrer braunen Lederjacke und ihre braunen Haare sind zum Zopf gebunden. Sie stürmt den Platz mit einem M4-Karabiner. „Get back! It’s safe! Get back!“, ruft der Soldat vor mir und ich drehe mich zwischen den Autos in der Hocke um und steige über den toten Soldaten. „Nimm die Waffe!“, ruft er mir auf Bosnisch hinterher und ich gehorche und ziehe die Pistole aus dem Gürtel. Ich habe noch nie eine Waffe abgefeuert!

Mein einzges Ziel und mein einziger Wunsch ist es, rüber zu Midhat zu gelangen. Meine Angst, meine Übelkeit, all das ist verschwunden. Safija ist hier! Alles wird gut! Ich sehe die beiden auf der anderen Seite des Podests. Safija exekutiert einen Mann auf dem Boden mit einem Kopfschuss und ruft was zu Midhat rüber. Er blickt sich um und ich gehe aus der Hocke etwas nach oben, damit er mich sehen kann. Am liebsten hätte ich ihm vor Freude zugewunken. Safija nickt in meine Richtung und Midhat eilt zu mir hin. „It’s okay!“, ruft er schon von weitem und ich weiss nicht, was er meint. Er winkt zu sich hin. „It’s okay, Safija is covering us, hajde!“ Ich realisiere erst jetzt dass ich immer noch auf dem Boden kauere und die Pistole vor meiner Brust festhalte. Aber hajde! hab ich verstanden. hajde! versteh ich immer.

 – Gedankenstrich – 

 

Zwei Dinge kommen mir immer Mal wieder in den Sinn, wenn ich über Bosnien nachdenke.         

„Im zweiten Weltkrieg war Bosnien das einzige Land, das sich selbstständig von den Nazis befreit hat“, hat meine Lehrerin im Geschichtsunterricht einst gesagt. In der Power Point Präsentation war dazu ein Bild von drei Soldatinnen der National Liberation Army. Keine Soldaten, keine uniformierten Männer, sondern drei selbstbewusst dreinblickende Frauen. Ich kann mich bis heute an fast jedes Detail auf diesem Foto erinnern.

„Meine Mutter und meine Tante haben den Genozid an den bosnischen Muslimen überlebt“, hat ein Kommilitone zu seinem Tischnachbarn in der Orientierungswoche gesagt. Ich sass alleine neben ihnen und ass das schrecklichste Kantinen-Curry, das ich in meinem Leben je hatte. Aber wenigstens war meine Familie noch am Leben, dachte ich damals. Ich war ein Arschloch.

Keine der beiden Erinnerungen war ausschlaggebend dafür, warum ich mein Auslandsemester in diesem Land verbringen wollte. Mit einem Einserschnitt im Hauptfach Journalistik und Kommunikationswissenschaft und einer 1,2 im abgeschlossenen Nebenfach Religionswissenschaft konnte ich mir das Zielland für mein viertes Fachsemester frei aussuchen. Ich habe mich für Srpska-Bosna entschieden, weil ich damals um die Zeit rum eine Netflix-Dokumentation über Sarajevo gesehen hatte. Ich war zweiundzwanzig.

Die Gastfamilien haben sich geradezu um mich gerissen. Mittlerweile weiss ich auch warum. Eine Reiche aus dem Westen – wer will das nicht. Midhat Ferhatović erhielt den Zuschlag und holte mich sogar persönllich am Flughafen in Sarajevo ab. Im Auto erzählte er mir in gebrochenem Englisch, dass er zwei Töchter in meinem Alter hat und dass sie in Zagreb studieren. Seine Frau Safija arbeitet in der Hauptstadt und ist nur alle paar Monate in Sarajevo.

Safija Ferhatović habe ich vor dem heutigen Tag nur zwei Mal kurz gesehen. Ich kam am letzten Septemberwochenende 2022 in Srpska-Bosna an, weil mein Studium an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Sarajevo am ersten Oktober begann. Mitte November stand an einem Mittwochmorgen plötzlich eine fremde Frau im Lesezimmer, als ich mich gegen Mittag auf zur Uni machen und Midhat Tschüss sagen wollte. Sie trug einen kinnlangen hellbraunen Bob und ihr Gesicht sah so jung aus, dass ich mir erst sicher war, dass sie eine meiner Gastschwestern war. Die einzige Unterhaltung, die wir an diesem Tag führten, ging ungefähr so. 

„I’m Safija, nice to meet you!“ Händeschütteln. „Do you like it here in Sarajevo?“ Und bevor ich ausführlich antworten konnte, kam Midhat und wies mich darauf hin, dass ich zu spät zur Vorlesung komme. Das machte er immer und er hatte immer Recht. Die Tür zum Lesezimmer ging zu und dahinter wurde laut auf Bosnisch diskutiert, was ich damals noch nicht so gut beherrschte.

Das zweite Mal besuchte Safija Midhat und mich über Neujahr. Sie war die meiste Zeit im Schlafzimmer und als wir beim Abendessen zusammensassen, redete sie vor allem mit Midhat auf Bosnisch. Ich konnte bruchstückhaft verstehen, dass sie sich darüber aufregte, dass ihre eigenen Töchter nicht Mal zu Neujahr nach Hause kämen, die hätten in Zagreb bestimmt auch Weihnachten gefeiert. Die einzige Unterhaltung, die sie mit mir führte, ging in etwa so.

„Have you learned a lot in Sarajevo?“ Und bevor ich ausführlich antworten oder nachhaken konnte, wie die Frage gemeint war, fragte sie „Do you like bosnian food?“ Diese Frage war von mir schnell enthusiastisch und auf Bosnisch beantwortet und danach haben wir nie wieder direkt gesprochen.

Bis heute.

3. März 06:25 Uhr Mali šef

Zehn Minuten sind wir bestimmt gerannt. So viel bin ich noch nie gerannt in meinem ganzen Leben. Jetzt sitze ich im Hinterzimmer eines kleinen Imbissladens, meine Lunge fühlt sich an, als würde sie explodieren, ich habe Seitenstechen und mein Gesicht fängt auch wieder an, ganzflächig weh zu tun. „They were going to make an example out of you.“, sagt Safija und wäscht sich die Hände im Waschbecken des kleinen Klos anbei. Sie öffnet den Spiegelschrank darüber auf der Suche nach etwas und schliesst ihn enttäuscht wieder. Ich höre, wie die Eingangstür zum Laden aufgeschlossen wird. Safija hört es auch und entsichert ihre Pistole. Als sie sieht, wer es ist, steckt sie sie wieder weg. Es ist Ivan Stolar. Sein Blick bleibt einen Moment in meinem Gesicht hängen, dann sagt er, Midhat hat es nicht geschafft.

Safija ruft nur ein einziges Mal Nein! mit schmerzverzerrtem Gesicht. Dann stützt sie die Hände auf die Knie und atmet laut und tief durch. Er habe seine Leiche am Boden liegen sehen, sagt Ivan. Er sei sich zu hundert Prozent sicher, bekräftigt er, als Safija flehend zu ihm hochblickt. Der grosse Mann mit den weissen Haaren nimmt die zierliche Frau für ein paar Sekunden in den Arm. Sie bedankt sich, wischt die Tränen aus ihrem Gesicht und sagt Ivan, er müsse den Medizinkasten finden, es höre nicht auf, zu bluten. Gemeint ist meine Nase und erst jetzt fällt mir mein blutgetränkter Pyjama auf und ich spüre wie das Blut immer noch pulsierend aus meinen Nasenlöchern läuft. Ivan verschwindet in die Küche des kleinen Imbisses und Safija zieht mich hoch in das kleine Klo. Sie wischt mir mit dem Handtuch das Blut von Mund und Kinn. „Bringst du noch Kleidung?“, ruft sie Ivan auf Bosnisch zu, doch er steht schon weder hier mit einem XL T-Shirt in weiss in der Hand. Mehr habe er nicht gefunden, entschuldigt er sich und so langsam dringt die schreckliche Wahrheit auch zu mir durch. 

Midhat ist tot. 


1. März 14:49 Uhr Građevinski fakultet Sveučilišta u Mostaru

 

 

Eigentlich wäre ich ja schon wieder zu Hause. 

Mein Auslandsemester ist seit Dienstag, 31. Januar 2023 mit der Abgabe meiner letzten Klausur offiziell beendet. Aber Midhat hat mir angeboten, die Semesterferien über noch zu bleiben. Und ich liebe unsere Wohnung in Sarajevo. Das Appartement befindet sich mitten in der Innenstadt, zehn Schritte von der Kathedrale entfernt. Der grosse Altbau ist geräumig und hell und aufgeräumt, also eigentlich alles, was meine WG in Hamburg nicht ist. Es war wunderschön, mitten in Sarajevo zu leben ohne zur Uni zu müssen.

Wir können ja noch ein bisschen reisen, schlug Midhat eines Tages vor. Er will mir die historische Stadt Mostar zeigen, damit ich noch etwas mehr von Srpska-Bosna gesehen habe als nur die ehemalige Hauptstadt. Deswegen sind wir am ersten März mit seinem BMW Offroader nach Mostar gereist. 

Die Strassensperre auf dem Pass kurz vor Konjic war der erste Hinweis, dass Mostar anders wird als Sarajevo. Soldaten wollen unsere Papiere sehen. Wir händigen alles aus. Unsere Pässe, meinen Studentenausweis, Midhats Arbeitgeberbestätigung. Als die Soldaten eine Viertelstunde später das nächste Auto heranwinken, reicht Midhat dem Uniformierten einen 50 EUR Schein. Der Soldat gibt uns die Unterlagen zurück und wir dürfen weiterfahren. Solange man Geld hat, gibt es in Srpska-Bosna keine Probleme. Nema problema

Unsere Unterkunft gehört einem Freund von Midhat. Ein junger Fussballspieler aus Mostar, der mehrere Gasthäuser besitzt. Midhat gibt ihm Geld, er will unsere Papiere nicht sehen. Er emfpiehlt uns, Waffen zu kaufen. Kurz vor Mitternacht kommt es zur ersten Explosion auf der anderen Seite der Brücke. Einige Minuten später sind Schüsse zu hören. Ich zählte über 30 Minuten verteilt insgesamt 18. Ich habe den Rest der Nacht kein Auge zugemacht. Am Morgen erzählt mir Midhat vom Ghetto.

Wer mit den neuen Gesetzen in Srpska-Bosna in Konflikt gerät, landet im Gefängnis. Die Gefängnisse sind überfüllt, weil die neuen Gesetze komplette Personengruppen für illegal erklärt haben. Deswegen gibt es Ghettos. Ich frage, ob es auch eins in Sarajevo gibt. Midhat sagt es gibt mehrere. Ich frage ihn, warum ich bisher nichts von diesen Gesetzen mitgekriegt habe, in der Stadt oder an der Uni. Darüber redet man nicht, antwortet Midhat düster. Sie betreffen mich nicht. 

Ich streife mit Midhat durch die kleine Altstadt rund um die alte Brücke. Stari Most. Auf der anderen Seite der Brücke hinter den kleinen Gebäuden der Altstadt türmt sich der Riesenbau eines ehemaligen geplanten Mariott-Hotels. Das ist das Mostar-Ghetto. Wir sollten uns bewaffnen, sagt Midhat leise und mehr zu sich selbst. Wir verlassen die Altstadt und begeben uns in Richtung Innenstadt. Midhat steuert ein bestimmtes Gebäude an. Die ehemalige Universität des ehemaligen kroatischen Viertels der Stadt. Die Graffitti an der Wänden erzählen von der Vertreibung der kroatischen Bosnier im serbischen Krieg.

Wo früher die Universität war, ist heute ein grosser Markt. Aber kein normaler, keiner in den man einfach rein kommt. Aber Midhat darf rein und nimmt mich mit. Es gibt Essen, Wasser, Kaffee, Tee, Kleidung, Ausrüstung und Waffen zu kaufen. Ich fühle mich komisch und zum ersten Mal seit meinem Austausch fremd. Es gibt mehrere Verkäufer für Gewehre, Pistolen und grössere Kaliber. Ein grosser Mann mit offenen langen blonden Haaren scheint Midhat besonders zu gefallen und sie verfallen ins Gespräch.

Sein Name ist Željko und er wurde kürzlich von einer radikalen feministischen Organisation, die hier sehr stark aktiv ist aus dem Gefängnis befreit, deswegen musste er sich in den Untergrund begeben. Er war vierzehn Jahre in der Armee und sein Geliebter stellte sich als Spion heraus. Ich stelle mir das wahrscheinlich romantischer vor, als es in der Realität ist. Trotzdem hat Željko noch Verbündete in der Armee, die ihn mit Militärausrüstung und Waffen für den Wiederstand versorgen. All das erzählt er uns in wenigen Minuten und niemand um uns herum schenkt uns Beachtung. Wir kaufen ein Jagdgewehr und eine AK-47. 

In Jutebeuteln und Einkaufstüten versteckt bringen wir Midhats neuen Patronengürtel, eine kugelsichere Weste und die neuen Waffen inklusive Munition zurück in unsere Ferienwohnung. Zu Fuss zu reisen ist am unauffälligsten. Autos werden ständig durchsucht. Vor allem auf dem spanischem Platz, dem zentralen Verkehrspunkt Mostars, der ganz in der Nähe ist. Dort trennen sich die Strassen nach Dubrovnik, Split, ob da auch alles so ist?

1. März 21:29 Uhr OKC Abrašević

Ich stehe vor dem Kulturzentrum und rauche eine Zigarette. Midhat trifft sich drinnen mit Freunden, aber der kleine Klub ist so stickig und stinkig, dass ich als einziger Mensch meine Zigarette lieber an der frischen Luft geniesse. Ein alter BMW mit fünf Leuten drin hält vor mir. Željko steigt aus und nickt mir zu, als er reingeht. Es ist recht frisch und ich gehe nach zwei weiteren Zigaretten wieder rein. Midhat sitzt immer noch am Tisch mit einer Gruppe alter Männer. Ich setze mich an den kleinen runden Tisch hinter ihm und checke die Nachrichten auf meinem Smartphone. Es ist immer noch keine Klausurnote da. Željko kommt mit einem Tablett Shots zu Midhats Tisch und verteilt die Gläser. Rakija, sagt er stolz und gibt mir auch eins. Er und die alten Männer prosten mir zu. Midhat stellt mich ihnen auf Bosnisch vor. Er erwähnt Deutschland und mein Studium. Željko wirkt interessiert. Die alten Männer reden über Krieg. Über den alten Krieg, über den neuen Krieg. Es geht um die UN und ihre passive Rolle in beiden Angelegenheiten. Das Gespräch versiegt und Midhat fragt, ob ich noch hier bleiben und tanzen will. Ich sage nein und wir gehen zu Fuss zurück in unsere Unterkunft.

2. März 10:56 Uhr Stari grad

Ich schlendere durch die winzige Altstadt. Heute Morgen hat mir Midhat in den geschützten vier Wänden unseres Gasthauses erklärt, wie man eine Waffe lädt und schiesst. Ich habe noch nie mit einer Waffe geschossen. Ich fühle mich unwohl beim Gedanken, aber ich hab mich bei den Übungen ganz schön stark gefühlt. Midhat hat mich viel gelobt. Dann hat er gesagt, er müsse noch etwas Geschäftliches erledigen und hat mir empfohlen, die Altstadt zu erkunden, sie sei sicher. Meinen Pass und die Universitätspapiere musste ich trotzdem mitnehmen. In einem kleinen Laden der Tabakwaren und Lebensmittel verkauft treffe ich auf einen der alten Männer von gestern. Ich erkenne ihn zuerst nicht, aber er weiss meinen Namen und dann klingelts. Er entschuldigt sich bei mir, kein Englisch zu sprechen. Midhat sei der Einzige, der es ein bisschen kann. Sein Name ist Ivan Stolar und das ist sein Laden. Er fragt, ob ich mit ihm einen Kaffee trinke. Ich muss Zeit totschlagen und er ist nett.

Wir gehen durch seinen Laden nach hinten in einen überdachten Hinterhof, wo eine niedrige Sitzecke und eine Shisha stehen. Er bringt mir einen bosnischen Kaffee und fängt an zu erzählen. Die Stimmung ist komisch, ich weiss nicht, warum er so nett zu mir ist. Er kennt mich doch gar nicht. Aber er scheint Midhat gut zu kennen und erzählt mir Geschichten über ihn. Er redet dabei extra langsam und wiederholt oder umschreibt Worte, die ich nicht verstehe. Ich fühle mich immer wohler. Und ich erfahre immer mehr über ihn. 

Er kommt aus einer christlichen Familie, ist 59 Jahre alt und wohnt schon sein ganzes Leben in Mostar. Den Laden hat er von seinem Vater übernommen. Er erzählt, wie es angefangen hat mit der Machtübernahme der rechten Partei. Und dann wurden plötzlich die ersten Schwulenclubs geschlossen. Inhaber sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Er sagt er hofft, sie seien ausgewandert. Vielleicht nach Deutschland, er blickt mich hoffnungsvoll an. Ich sage, ich hoffe es auch. Er erzählt von seinem Nachbarn, der seinen Sohn verstossen hat, weil er als Mädchen geboren worden war. Er war ein so netter Junge, sagt Ivan. Eine gute Seele. Jetzt muss er eingepfercht im ehemaligen Mariott mit hundert anderen über die Runden kommen. Bis zu zehn Menschen würden sich dort schon ein Zimmer teilen, habe er gehört. Die Regierung lässt die Menschen da drin verhungern. Sie haben zwar Elektrizität und fliessend Wasser, aber würden er und ein paar wenige andere Menschen ihnen nicht mit Lebensmitteln aushelfen, wären sie schon alle tot. Die UN macht gar nichts. Ich schweige betreten. Midhat mache gute Arbeit, sagt Ivan. Midhat sei ein guter Mann und wenn er mir so sehr vertraue, mich hierherzubringen, dann müsse ich auch ein verdammt guter Mensch sein, sagt er. 

2. März 20:22 Uhr Hindin Han  

Midhat und ich sitzen im Restaurant. Ich erzähle ihm von meinem Tag. Wie ich nicht weit gekommen bin in der Altstadt weil mich Ivan aufgegabelt hat. Midhat findet es witzig und sagt, ich hätte mir bestimmt eine Menge alter Geschichten anhören müssen. Ivan ist einer seiner ältesten Freunde. Wir essen Bosanski Lonac und Klepe und spazieren danach nochmal durch die Altstadt. Uns begegnen viele bewaffnete Polizisten und Soldaten. Zwei Mal werden wir angehalten, müssen unsere Papiere zeigen. Beim zweiten Mal sagt uns der Soldat, wir sollten nachts lieber nicht mehr unbewaffnet herumlaufen. Midhat bedankt sich bei ihm.

Wir trinken noch einen Kaffee zusammen und einen Rakija und gehen dann in unsere Unterkunft. Ich will mich gerade von Midhat für die Nacht verabschieden, da klingelt sein Handy. Es ist Ivan. Er braucht Hilfe, das Restessen aus seinem Laden das Morgen nicht mehr verkauft werden kann ins Ghetto zu bringen. Midhat wirkt dabei sehr konzentriert. Sein Blick fällt auf mich. Er sagt Ivan, er schickt jemanden vorbei.

Bewaffnet mit dem Jagdgewehr das wir gestern gekauft haben, einer Runde Patronen und meinen Papieren gehe ich zurück in die Altstadt. Ich habe das Gefühl, ich werde jetzt noch weniger beachtet als eben mit Midhat. Es ist kurz vor 23 Uhr als ich an die Tür zu Ivans Laden klopfe. Er schliesst sie für mich auf und wir durchqueren den dunklen Laden und gehen in den Innenhof. Zu meiner Überraschung sitzen da mehrere junge Leute. Und Željko. Er nimmt mich zur Begrüssung in den Arm und stellt mir die anderen vor. Die blonde junge Frau heisst Lejla, die Rothaarige neben ihr Vladana und der junge Mann mit den dunklen, krausen Haaren stellt sich mir selbst als Mirko vor. Mirko ist mit dem Nachbarsjungen zusammen, der verschleppt und ins Ghetto gebracht wurde, sagt Ivan. Ich weiss nicht was ich darauf antworten soll und nicke nur traurig. Mirko kommt mit mir mit, sagt Ivan. Ich soll nicht alleine gehen.

Mirko und ich verlassen den Laden mit je einer Einkaufstüte und Mirko führt mich zielgerichtet durch die engen Strassen der Altstadt. Er plaudert dabei unentwegt über sein Studium mit mir und zeigt keine Regung, wenn Polizisten an uns vorbei gehen. Wir sind schlichtweg zwei junge Leute, vielleicht sogar ein Pärchen, das spätnachts noch kurz was einkaufen war. Wir erreichen eine kleine Zufahrtssstrasse, die uns von einer hohen Mauer trennt. Dahinter türmt sich das ehemalige Mariott Hotel über uns auf. Ich erkenne Gestalten an den Fenstern, die zu uns raus gucken. Mirko guckt links und rechts die Strasse runter, aber es ist keine Menschenseele zu sehen. Er knüpft die beiden Einkaufstüten zu. Einfach hingehen und werfen, sagt er zu mir. Traust du dir das zu? Ich blicke mit Sorgenvollem Gesicht zur Mauer. Es geht schneller, wenn wir es gleichzeitig machen, sagt Mirko. Ich nicke und wir schreiten schnell zur Mauer.

Obwohl ich mit aller Kraft die ich habe den Beutel nach oben schleudere, landet er nicht hinter sondern auf der Mauer und öffnet sich. Der Inhalt fällt lose auf der anderen Seite runter, eine Dose fällt mir fast auf den Kopf. Ich kann gar nicht reagieren, da hat Mirko bereits mit der einen Hand seine Pistole aus der Rückseite seiner Hose gezogen, mit der anderen Hand die Dose aufgehoben und sie geräuschvoll über die Mauer geschleudert. Wir hören Schritte, die schnell auf uns zukommen und Mirko hebt die Waffe in die Richtung. Er nimmt meine Hand und zieht mich wieder in die Seitengasse auf der anderen Strassenseite. Wir gehen schnellen Schrittes um ein paar Ecken und biegen in die Hauptstrasse, die zum spanischen Platz führt. Ich will mich entschuldigen aber Mirko bedeutet mir mit einem „Shh!“ zu schweigen. 

Wir überqueren schweigend die Lučki most und gehen schweigend die Einkaufsstrasse hinunter. Als wir uns wieder in die Altstadt begeben, beginnt Mirko zu lachen. Er sagt, das war der schlechteste Wurf, den er in seinem ganzen Leben je gesehen hat. Und er sei ein Gay im Sportunterricht gewesen. Ich entschuldige mich tausendmal und schäme mich in Grund und Boden. Nicht schlimm, lacht Mirko und winkt ab. „Biće, biće“, sagt er und zwinkert mir zu.

3. März 10:25 Uhr Mali šef

Ich habe mich kurz nach Sieben doch zwei Mal übergeben, aber heraus kam nichts ausser Schleim. Ivan reicht mir immer wieder eine Flasche Wasser, aber ich habe Schwierigkeiten, daraus zu trinken. Mittlerweile sind drei weitere Leute eingetroffen. Vladana, eine mir unbekannte Frau und Mirko sind hier. Ich bin körperlich so erschöpft, dass ich mich in Seitenlage auf den Boden gelegt habe. Mein Kopf dröhnt und ich kriege die Gespräche nur halbwegs mit. Als Mirko erzählt, dass Željko uns von seiner Wohnung aus gesehen und verraten haben muss, macht Safija ein entsetztes Geräusch und ich öffne die Augen. Sie sagt, dann sei es ihre Schuld, dass Midhat tot ist. Sie habe ihn zu Željko geschickt. Sie flucht mit Wörtern und Ausdrücken, die ich noch nie gehört habe. Er muss sterben, sagt sie mehrmals. Meine Augen fallen zu und als ich das nächste Mal aus dem Halbschlaf erwache, sind Vladana und die Unbekannte verschwunden. Ivan sitzt neben mir auf einem Klappstuhl, streicht durch Mirkos Haare, der auf dem Boden sitzt und Safija telefoniert am Handy. „Wir bekommen einen“, sagt sie, als sie sich umdreht und ihr Blick fällt auf mich. „Wie geht es dir, moje srce?“, fragt sie mich. Sie reicht mir eine kleine Flasche Cockta, aus der sie eben getrunken hatte. „Trink!“, befiehlt sie. „Für die Nerven.“

Die kalte, süsse sprudelnde Flüssigkeit tut tatsächlich gut, auch wenn das Geräusch das mein Magen daraufhin macht etwas anderes vermuten lassen würde. „Heute gibt es Verhandlungen, wir müssen gleich schauen, wie weit sie sind. Vielleicht kannst du übersetzen?“, sagt Safija und blickt zu mir. Ich nicke, obwohl ich nicht weiss, worum es geht. Ivan singt ein Lied, ein Sevdah, es klingt lang und traurig und wunderschön. Als Safijas Telefon das nächste Mal in ihrer Hand vibriert, geht sie zur Tür und es kommen zwei unbekannte Frauen und ein Mann herein. Die hinterste Frau hat ein riesiges Gewehr in der Hand. Es ist ein Scharfschützengewehr. Ich sehe, wie Safija und sie einen Blick tauschen, dann nickt die kleine schwarzhaarige Frau und Safija nickt mit ernstem Gesichtsausdruck zurück. „Wir haben ein Laptop“, sagt eine andere Frau und Ivan steht auf „Ich hab Internet.“, sagt er. 

Zu siebt blicken wir schweigend auf den Bildschirm des kleinen Laptops, wo ein Stream der CNN in einem kleinen Fenster läuft. Der Nachrichtensprecher ist kaum zu hören und obwohl die erste Stunde lang nur über Vorkommnisse aus dem Rest der ganzen Welt berichtet wird, kann niemand den Blick vom kleinen Display lösen. Nur eine kurze Info in einer Bauchbinde informiert über „Unruhen in Srpska-Bosna bei Zivilaufständen“. Endlich kommen die Nachrichten aus Europa um 14.30 Uhr und Ivan holt hörbar Luft. Die Scharfschützin, die von den anderen Amela genannt wird, legt ihre Hand auf Safijas Schulter und Safija legt ihre darüber. Ein hässlicher deutscher Reporter namens Harald Rathmann steht in der Baščaršija in Sarajevo und berichtet auf Deutsch mit einem englischen Sprecher darüber über Studentenaufstände und Erschiessungen jugendlicher Delinquenten vor den Ghettos. Auf den Bildern die mit einer Zuschauerwarnung gesendet werden sind grosse Demonstrationszüge mit Pride-Flaggen zu sehen und Unbewaffnete Menschen, die die Ghettos belagern, umzingelt von bewaffneten Soldaten der Sprksa-Bosna Armee. Plötzlich wird Mostar namentlich erwähnt und es ist von Ausschreitungen und Armee-Massnahmen die Rede. Gezeigt wird der Parkplatz. Die Drohnenaufnahmen zeigen Frauen, die erhängt oder erschossen wurden. Ich hätte eine von ihnen sein können. Oder sein sollen. Safija und ich schnappen beide nach Luft als Midhats Leiche für einen Moment auf der Drohnenaufnahme zu sehen ist. 

Ich fange an zu weinen und ich traue mich nicht, zu Safija zu blicken. Ich spüre plötzlich ihren Fuss in meiner Hüfte. „Pass auf!“, sagt sie und ich blicke wieder auf den Newsstream. „Du musst übersetzen, was haben sie gesagt?“, fragt Safija nach dem Nachrichtenabbinder. Ich versuche so gut es geht auf Bosnisch zu erklären, dass die UN in Mostar verhandeln will weil es in Sarajevo kein Durchdringen gibt und dass Rathmann um 18 Uhr aus Mostar berichten will. Safija blickt triumphierend zu Ivan, der immer noch weint. „Ich hab es dir gesagt.“, sagt sie. Ivan wischt sich die Wange und nickt. „Dann machen wir weiter.“, beschliesst Safija und ich blicke zu ihr hoch. Ihr Gesicht ist trocken und ihr Blick entschlossen.


3. März 18:07 Uhr Mariott Hotel Radobolija  

 Ich klettere auf die Paletten und springe über den Wellenbrecher. Ich habe keine Zeit, mir Gedanken zu machen, sonst würde ich mich übergeben, sofort umdrehen oder wegrennen. Ich gehe mit langsamen, sicheren Schritten auf Rathmann zu. Ich konzentriere mich auf seine leicht gebückte Gestalt, nicht auf meine Übelkeit, das tosende Rauschen im Ohr oder mein Herzrasen. Ich bleibe eine Armlänge vor ihm stehen. Er ist in Echt viel kleiner als im Fernsehen. „Go back!“, befiehlt er laut und sehr unfreundlich. „I can only talk to the leader.“ Ich schüttel den Kopf. „We’re both just messengers, sent by our leaders.“, sage ich. Wir sind beide nur Sprachrohre unserer jeweiligen Anführer. Woher diese Ruhe oder Abgebrühtheit meinerseits kommt, kann ich mir nicht erklären, aber ich weiss jetzt zumindest, wie es meinem Gegenüber geht. Don’t shoot the messenger, denke ich dazu. Rathmann hält seine Hand an das Ohr mit dem Knopf-Kopfhörer und sagt in das Mikrofon an seinem Kragen „Sie ist eine Unterhändlerin.“ Es vergehen mehrere Sekunden. „Lasst sie reden“, sagt Rathman den Personen am anderen Ende seiner Verbindung. Dann blickt er blickt mich an und sagt „Okay.“ 

„The demands!“, blafft er mir zu. „Name them.“ Ich möchte am liebsten zur Seite blicken, da steht Ivan. Oder mich umdrehen um Mirkos Gesicht noch einmal zu sehen. Ich brauche seinen Mut, seine Liebe. Doch ich bleibe standhaft. „Sie kennen die Forderungen, Herr Rathmann“, kriege ich heraus, ohne zu zittern. Das Adrenalin kickt und ich mache mich gerade, sodass ich grösser bin als er. Er kennt die Forderungen ganz genau. „Freiheit oder Krieg!“, sage ich, nur um es gesagt zu haben. Rathmann blickt mich düster an und hebt die Hand zum Zeigefinger, als solle ich warten. So laufen Verhandlungen auf internationaler Ebene also ab. Er hört in sein Headset und ich erlaube mir einen kurzen Seitenblick nach rechts. Ivan schaut nicht zu mir, sondern zur Soldatenreihe hinter Rathmann, mit ihren Waffen am Anschlag. Schwer bewaffnet und schussbereit. Die Absperrungen zum Ghetto bewachend.

3. März 17:51 Uhr Mali šef

„Du brauchst keine Angst haben.“, sichert mir Safija zu. Der Wagen und die Route sind gesichert, sagt sie im informativen Ton. „Amela, Vladana, Lejla und Ajna sind vorausgegangen, dir wird nichts passieren.“, sie lächelt mich freundlich an. Ich bin mir nicht sicher. „Wir werden deine Seite nicht verlassen.“, sagt Mirko und Ivan legt mir eine Hand in den Rücken. „Wir passen auf.“, sagt er und mein Kopf fügt hinzu Wie Midhat. Mein Herz rast, mir ist schlecht. „Fahrt direkt, lasst euch nicht einschüchtern. Es ist alles besprochen.“, sagt Safija zum Abschied, als wir in das kugelsichere SUV steigen. Ein Blauhelm sitzt am Steuer. „Sa srećom„, sagt sie zum Schluss und dann hajde.

Im Auto geht Ivan der vorne sitzt nochmal die Verhandlung mit mir durch. Mirko hält dabei die ganze Zeitmeine Hand und das tut so gut, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Als wir den Parkplatz wieder erreichen hat er sich so verändert, dass ich ihn kaum wiedererkenne. Die Toten wurden weggebracht, die Autos die hier heute Morgen noch standen sind weg. Stattdessen stehen jetzt Barrikaden rund um den Vorplatz und vor der Mauer zum Hotel stehen schwer bewaffnete Soldaten und noch mehr Barrikaden. Vom Eingang des Hotels lösen sich drei Menschen, denen von der Armee aber sofort Einhalt geboten wird. Nur eine Person darf passieren und begibt sich auf die Mitte des freien Felde zu. Wir drei steigen aus dem Auto und Ivan zeigt nach Rechts, mir deutend dass er versucht in meiner Nähe zu bleiben. Mirko will eine Räuberleiter machen, um mir über die Barrikade hinweg zu helfen, aber ich schaff es alleine.

 

3. März 18:09 Uhr Mariott Hotel Radobolija  

 Rathmann gratuliert mir. Ich bin verwirrt. „Die Präsidentin der Vereinten Nationen hat die UN-Charta als Emergenzreferendum validiert. Die Gesetzänderung ist unterschrieben und per sofort in Kraft.“, sagt er. Das heisst, die Charta überstimmt den Staat Srpska-Bosna, die Armee macht sich strafbar, wenn sie Leute länger festhält aufgrund ihres Äusseren oder Geschlechts. Ich blicke ihn fassungslos an. Ich kann ein Lächeln nicht zurückhalten, aber es ist nicht vor Freude, eher Verwirrung, Überforderung, Ungläubigkeit. Rathmann lächelt, das sollte mich eigentlich beruhigen, macht mir aber Bauchschmerzen. „Alles gut“, sagt er ruhig. „Du hast es geschafft.“ Sein lächeln ist ehrlich und seine Haltung entspannt. Seine Worte bleiben in der Luft hängen und das Wort „geschafft!“ wiederholt sich immer und immer wieder in meinem Kopf und sickert immer mehr zu mir durch.

Etwas zerfetzt und das merkwürdige Geräusch reisst mich aus der „geschafft!“-Gedanken. Geschockt blicke ich in Rathmanns Gesicht, das plötzlich mit Blut bespritzt ist. Mein Blick wandert zu seiner Brust wo ein Kugelprojektil in seiner schusssicheren Weste steckt. Sein Blick zeigt blankes Entsetzen und er greift nach mir mit ausgestreckten Armen. Ich will ihn festhalten, weil er nach hinten fällt. Aber er fällt gar nicht, sondern wird gezogen von zwei Blauhelmen, die laut „SNIPER!“ rufen. Rathmann weint und ruft laut „Das Mädchen!“. Meint er mich? Ich will ihm antworten, aber ich verschlucke mich und heraus kommt nur ein komischer Laut. Die Schmerzen dabei sind unmenschlich. Bis eben habe ich absolut nichts gespürt und jetzt besteht mein ganzer Körper nur aus Schmerz. Ich habe Blut im Mund, wahnsinnig viel davon. Ich schmecke es. Ich schmecke nur noch das. Ich ersticke daran, ertrinke darin, ich kriege keine Luft! Ich liege plötzlich am Boden – wie bin ich hierhergekommen? Bin ich hingefallen? Ich habe es nicht mitgekriegt. 

Ich kriege keine Luft! Mirko ist da, er weint und schreit. „Ich kann nichts machen, was soll ich machen!“, heult er. Seine Hände, seine ganzen Arme, seine Brust –  alles ist voll mit Blut. Ich will den Arm heben und sein Gesicht anfassen, aber ich kann mich nicht bewegen. Mir wird schwarz vor den Augen und alle Geräusche laufen ineinander, werden immer lauter und am Ende so laut, dass es ganz still ist.

Hinterlasse einen Kommentar